Donnerstag, 30. November 2006
Gas
Seitdem ich eine Dauerfahrkarte besitze, habe ich die Annehmlichkeiten des Busfahrens entdeckt.
Aber etwas Unangenehmes gibt es auch beim Busfahren.
Zu manchen Zeiten fährt der Bus nicht, dann müßte man ein Stunde warten, wie an diesem Morgen.
Die Linie 15 kommt erst in vierzig Minuten, also zu Fuß bis zur nächsten Haltestelle.
Ich habe es nicht eilig.
Am Marktplatz gibt es drei Möglichkeiten, in die Stadt zu gelangen, warten muß ich aber auch hier.
Die Linie 36 kommt in acht Minuten, das reicht, ich habe Zeit.
Der Bus kommt, ich steige ein, wir fahren drei Haltstellen weiter, ohne daß ein Fahrgast zusteigt.
Wir sind also gut in der Zeit.
Dann steht der Bus vor einer roten Ampel, weiter vorne, da wo die Straße leicht nach links biegt, ist irgend etwas im Gange.
Grün, der Bus setzt sich gerade in Bewegung, als sich weit vor uns ein Feuerwehrwagen auf der Straße querstellt und die halbe Fahrbahn blockiert.
Polizeiwagen mit Blaulicht flankieren die Bürgersteige.

Vom hohen Bus aus ist schon aus der Ferne alles gut zu beobachten, trotzdem fährt der Busfahrer in die abgesperrte Fahrbahn und läßt den Wagen bis kurz vor vor der Straßensperre ausrollen.
Das war ein Fehler.
In rascher Fahrt schlängelt sich von hinten ein Transportwagen der Feuerwehr an dem Bus vorbei, der aber die Zufahrt versperrt.
Ein Feuerwehrmann bedeutet dem Busfahrer, daß er zurücksetzen soll.
Nur zögernd setzt er den Bus zurück, er ist nervös, kann nicht nach hinten sehen und der LKW drängelt, setzt zudem die Sirene in Gang.
Ihr heulender Ton läßt den Bus vibrieren.
Gekonnt schlüpft dann das schwere Fahrzeug mit Blaulicht durch die Lücke nach vorn.
Ein Feuerwehrmann erklärt dem Fahrer, daß die Straße wegen Explosionsgefahr gesperrt sei.
Im gleichen Augenblick treibt ein schwacher Wind Gasgeruch in unseren Bus.
Manche Fahrgäste werden unruhig, verlassen das Fahrzeug und wollen zu Fuß weiter, aber die gesamte Straße ist für den Autoverkehr und auch für die Fußgänger gesperrt.
Eine Frau zu meiner Linken meckert und macht sich Sorgen um das Zeitlimit ihrer Fahrkarte, mit der sie noch umsteigen will.Der Fahrer zuckt die Achseln, er ist überfordert und der Anschlußbus ist schon fort.
Genervt biegt er das Mikrofon vor seinen Mund und beschreibt dem Fahrdienstleiter die Lage und daß er keine Durchfahrt bekommt.
Er erhält die Anweisung, an Ort und Stelle zu bleiben und muß auf die Hilfe eines Mitarbeiters warten, der in zehn Minuten da sei.
Nun stöhnen die Fahrgäste doch auf, weil wir schon eine lange Viertelstunde warten und niemand weiß, wie und wann es weitergeht.
Auf dem Straßenstück vor uns ist nun Bewegung.
Die schweren Wagen stehen nun quer auf der Straße oder wechseln die Straßenseite.
Es wird rangiert, um einem weiteren Rettungsfahrzeug und einem Spezialfahrzeug für die Luftmessung Platz zu machen, die sich eilig durch die schmale Fahrgasse quetschen.
Auf uns wirkt das alles ziemlich chaotisch, aber es muß wohl ein Plan dahinterstecken.
Zur gleichen Zeit, als der weisungsbefugte Mitarbeiter am Fahrerfenster erscheint, um beim Zurücksetzen behilflich zu sein, löst sich vorne in der Sraße der Pulk aus roten und grünen Wagen auf.
Nach und nach wird die Straße wieder breiter - die Polizeifahrzeuge fahren auf die Bürgersteige und die schweren Rettungsfahrzeuge bahnen sich ihren Weg zum Fahrbahnrand oder verlassen die Gefahrenstelle, wie der Busfahrer dem Dienstleiter durch das Mikrofon mitteilt.
Die Straße liegt wieder breit und leer vor uns.
Es geht weiter.

... link


Zwei Groschen
Zwei Groschen

Die Zeiten waren schlecht.
Damals war ich ungefähr acht Jahre alt.

Mein Vater war als Gymnasiast von der Schulbank weg eingezogen worden und kam, noch jung, gealtert aus dem Krieg heim.
Eine Bombe hatte seine Mutter zerrissen, sein Vater war Hilfsarbeiter bei der Eisenbahn.
Der Vater meiner Mutter war Bergmann, ein Beruf, den der Diktator sehr schätzte, und Opa schätzte den Diktator.
Auch von ihrer Mutter weiß ich nur, daß sie im Krieg umgekommen ist.
Meine Mutter hatte dieser Krieg nach Osten verschlagen, mitten hinein in die anrückenden Truppen der Russen.

Die Startbedingungen nach dem großen Krieg waren für viele, auch für meine Eltern, denkbar schlecht und beide arbeiteten sie hart.
Mein Vater studierte Medizin und meine Mutter, Krankenschwester von Beruf, war in einer in einer Spinnerei beschäftigt und nach Feierabend ging sie putzen.
Eine Nenntante väterlicherseits kümmerte sich um mich.
Ein paar Jahre später wurde mein Bruder geboren, meine Mutter konnte nun nicht mehr arbeiten gehen.
Zu dieser Zeit wurde das Einkommen noch bescheidener.
Sehr ehrgeizig war mein Vater und nutzte jede Gelegenheit, beruflich voranzukommen.
Er machte sein Pflichtjahr in einem Krankenhaus und wir mußten umziehen.
Meine Mutter drehte jeden Pfennig zweimal um, manchmal auch dreimal.
Einmal, vollkommen überraschend, schenkte sie mir Kirmesgeld.
Sie drückte mir zwanzig Pfennig in die Hand, zwei Groschen, wie die alten Tanten sagten.
Ich ahnte, daß das Geld einen Wert hatte, den halben Tag lief ich über den Kirmesplatz und schaute überall zu, ohne es Geld anzurühren.

Was gab es da nicht alles zu sehen:
die riesige Dampforgel, deren Druckkessel die Kraft lieferte, damit der mächtige Treibriemen die mannshohen bunt bemalten Holzfiguren drehte und dabei noch die Melodien über den Platz schmetterte.
Alle diese bunten Buden, die Raupe mit dem Klappdach, deren süßes Geheimnis ich erst sehr viel später erfahren sollte, als ich meine erste Freundin hatte. Die Luftballons, die in allen Farben leuchteten, der Eisbärmann, der mich immer so erschreckte, bis ich sein kleines Gesicht zwischen den riesigen Fangzähnen entdeckte. Danach fürchtete ich mich weniger.
Das Kettenkarussell hatte es mir angetan.
An viel zu dünnen Ketten, wie ich mit Sorge feststellte, hingen Sitze mit Lehnen, in die sich die Menschen zwängten und es dann wagten, mit einer Sicherheitskette vor dem Bauch, sich mit Hilfe der Fliehkraft über die Köpfe der Besuchermengen schleudern zu lassen.
Von dort oben hatten sie sicherlich eine schöne Aussicht auf die Schiffschaukel nebenan und das Riesenrad am Rande des Platzes.
Ich stand und schaute, freute mich mit den Menschen, wenn sie vor Vergnügen jauchzten und litt mit ihnen, wenn sie bei rasender Fahrt vor Angst schrieen.
Das Gewimmel der Menschen, die bunten Luftballons, die Gerüche von Anis, Lakritzen und kandierten Erdnüssen, die Musik aus den Lautsprechern, die dumpf verzerrten Stimmen aus den Mikrofonen der Budenbesitzer, alles stürzte auf mich ein.
Ab und zu tastete ich nach den zwei Groschen, den zwanzig Pfennig, das klang nach mehr Geld.
Ich vergewisserte mich, daß sie noch da waren, mittlerweile in der Hosentasche angewärmt und ein wenig klebrig.

Dieses absichtlose Gucken ging, ganz leise aber stetig, in ein zartes Verlangen über und wurde nach und nach zum Wunsch, auch auf eines dieser Kirmesgeräte zu steigen.
Schnell unterdrückte ich den Gedanken daran, kam an einem Pferdekarussell vorbei, die Tiere hatten wehende, weiß lackierte, wilde Mähnen, wippten immer auf und ab in einem furiosen Galopp.
Mit ihren viel zu weit aufgerissenen Augen und Nüstern luden sie mich ein, auf der Stelle tretend, über die Steppe zu fliegen.
Daß sie nicht wirklich galoppierten, stellte ich bei näherem Hinsehen mit Bedauern fest, und der ganze Zauber war dahin.
Dann war doch das Karussell mit den Autos besser, da drehten sich wenigsten die Räder.
Sogar einen Motorroller gab es dort und ein leuchtend rotgestrichenes Feuerwehrauto mit einer echten Messingglocke.
Das stille Verlangen wuchs auf dem Weg zum Boxring, zwischen den Losbuden.

Mehr noch, ich wollte das Geld ausgeben!

Ein innerer Kampf entbrannte in mir: das Feuerwehrauto oder doch lieber der Motorroller oder doch besser eins von diesen wilden Pferden, Lakritze wäre auch nicht schlecht oder türkischer Honig, Zuckerwatte, gebrannte Mandeln, alles weckte in mir Verlangen.
Immer mehr geriet ich in einen Zwiespalt - sollte ich nach Hause gehen und das Sparschwein füttern oder vielleicht doch ein Los kaufen, mit der Aussicht, vielleicht einen riesigen, rosafarbenen Bären zu gewinnen.
Aber gab es denn überhaupt rosa Bären?
Ich war mir nicht sicher.
So entschied ich mich für die drei Ringe an der Wurfbude, hatte das Geld schon in der einen Hand, die Ringe in der anderen, da streckte der alte Mann seine Hand aus und wollte das Geld haben, mein Geld.
Wild entschlossen legte ich die Ringe zurück und schlug den Weg nach Hause ein.
Dann aber geschah es:
mit steinerner Mine ging ich zur Schießbude, nahm ein Gewehr, bekam sechs Kügelchen für die zwei Groschen, öffnete die Kammer, ließ die Kugeln hineinträuflen und schoß auf die weißen Tonröhrchen, verbissen und wütend.
Der Mann im grauen Kittel suchte grinsend meinen Blick: >>Vier daneben, zwei getroffen. Da musst du aber noch üben<<.

... link


Montag, 20. November 2006
Wer ist Arno?
Donnerstag nachmittag, Feierabend und schon in Urlaubsstimmung. Schließlich geht es am Samstag nach Florenz. Schlüssel ins Zündschloß, ich muß noch zur Bank, Geld abheben und vor allem tanken.
Ein letztes freundliches Grüßen des Pförtners, jetzt aber hurtig!
Schlüssel herumgedreht, starten - ein unangenehm schrilles, hohes Pfeifen, der Motor stirbt ab. Stille!
"Was ist das? Oh nein ! Nicht jetzt, ausgerechnet jetzt".
Mit einem unangenehmen Gefühl im Magen reiße ich die Motorhaube auf. Ein banger Blick, der Zahnriemen ist gerissen. Zum Glück ist der Motor noch heil. Ein Kollege fährt mich zum Ersatzteilhändler.
Der mürrische, grauhaarige Mann im blauen Kittel lehnt an der Annahme. "So, so, Ford Escort. Wie alt?“ Ich sinke etwas in mich zusammen.
„Was, von 1985? Mann, das sind ja 15 Jahre! Zeigen Sie mir doch mal den Fahrzeugschein". Er beäugt das Dokument. "Mhm. Muß ich bestellen, so etwas haben wir nicht vorrätig. Das dauert mindestens zwei bis drei Tage, das Ding ist nicht leicht zu kriegen. Kommen Sie Samstag früh".
Das wird eng, schließlich will ich am Samstag in Urlaub fahren. Am Samstag früh mache ich eine kleine Fahrradtour und bin um neun Uhr in der Werkstatt.
"Ich möchte den Zahnriemen abholen". Der Mann trägt heute einen grauen Kittel. Er mustert mich und schaut über die Schulter zurück, als er in den hinteren Räumen verschwindet. Nach einer Weile erklärt er: "Wir haben da was aufgetrieben, war nicht leicht!" Erleichtert und voller Schwung radle ich nach Hause. Jetzt schnell den Zahnriemen montiert, und dann geht es in den Urlaub.
Mit der Montage komme ich nicht recht voran, der Sohn muß helfen, schließlich ist er Kfz-Mechaniker.
Der Zahnriemen paßt nicht, er ist zu lang. Auch das noch!
Nun ist schon Nachmittag und die Werkstatt hat geschlossen. Nächste Woche wieder einen neuen Zahnriemen bestellen und wieder warten, mein schöner Urlaub! "Ich will nach Florenz!" schreit es in mir.
Die Freundin meines Sohnes weiß Rat. Die Freundin der Freundin arbeitet in einem Reisebüro. Vielleicht kann sie helfen. Kurze Zeit später ruft dieser Engel zurück. "Ja, da hat ein Ehepaar abgesagt". Die Ehefrau ist erkrankt, im Bus sind zwei Plätze frei. Welch ein Glück! Bezahlt wird schnell und unbürokratisch.
Montag früh um sieben Uhr am Busbahnhof.
Der Fahrer ist etwas unsicher; er weiß nichts davon, daß ich mitfahren kann. Nach seinen Unterlagen ist der Bus bis auf den letzten Platz ausgebucht. Mit einiger Mühe gelingt es mir, ihn zu überzeugen. Trotzdem muß ich bis zur Abfahrtszeit warten. Erst als niemand mehr erscheint, trägt er mich in seine Namensliste ein.
Schnell ist der Seesack verstaut, den Rucksack nehme ich mit in den Bus. Um acht Uhr rollen wir auf der Autobahn in Richtung Österreich.
Die Stimmung ist nach zwei Stunden Fahrt schon sehr gut.
Vor allem Käthe aus dem Selfkant nahe der holländischen Grenze tut sich hervor. Sie ist laut, naiv und hat eine durchdringende Stimme. Die Mitreisenden biegen sich vor Lachen, aber mir gehen nach einiger Zeit ihre dummen Sprüche und Witzschen auf die Nerven. Zum Glück bietet der Sitz eine zwar enge, aber gemütliche Position, und ich döse vor mich hin. Nun hat ja doch noch alles ein gutes Ende gefunden.
Am Brenner-Paß regnet, schneit und stürmt es, aber gegen Abend nähern wir uns auf einer gefährlich verschneiten Talabfahrt dem Ort der Übernachtung.
Am nächsten Tag geht es mit frischen Kräften weiter nach Italien. Die schmale Straße schlängelt sich bergab und plötzlich stößt die Sonne durch die Wolken.
Schlagartig wird es warm und gemütlich, und nach kurzer Zeit fahren wir sogar an blühenden Apfelbäumen vorbei.
Dann wird die Landschaft etwas eintönig, und der altbewährte Reiseführer vertreibt mir die Zeit, bis die Poebene auftaucht. Das läßt sich gut an. Marmorbrüche und Steinlager säumen die Straße, die zur Toscana führt.
Wie das klingt: Toscana, Pisa, Siena, Florenz. Ja, vor allem Florenz, das an den Ufern des Arno den Humanismus und die Kunst geboren hat.
Der Busfahrer bearbeitet sein Mikrofon und schildert während der Fahrt was uns erwartet - Kunst, Kultur, Landschaft.
Seine langatmigen und eintönigen Ausführungen haben eine einschläfernde Wirkung auf mich. Müde liege ich in meinem Sitz und träume von Michelangelo.
Die näselnde Stimme im Lautsprecher läßt mich hochfahren: "Sie haben ungefähr vier Stunden Zeit, um auf eigene Faust etwas zu unternehmen und um fünf Uhr treffen wir uns am Busparkplatz beim Arno".
Ein Augenblick der Stille, dann ein empörter Aufschrei in den hinteren Reihen. Nun bin ich wirklich hellwach - diese Stimme - das klingt nach Käthe: "Hören Sie mal, Sie. Wie sieht der Mann denn aus, den kenne ich doch gar nicht!".

... link